Es gibt immer wieder Geschichten, die aus heutiger Sicht fast unglaublich klingen. Eine davon handelt von zwei kleinen Jungen aus Boston, die unbedingt die große Weltausstellung 1967 in Montreal sehen wollen. Die beiden spannten einfach ihr Shetlandpony an einen Wagen und marschierten fast 400 Kilometer allein bis nach Kanada. Mit den beiden Brüdern Tony und Jeff Whittemore drehte der US-amerikanische Regisseur Eric Stange den Dokumentarfilm „Pony Boys“. Ein Gespräch über das Abenteuer des Lebens, eine sorglose Kindheit und den unbändigen Willen zur Freiheit.
Von Eric Stange
Es klingt kaum vorstellbar, ein Neun- und ein Elfjähriger unternehmen solch eine lange Reise. Was hat euch so sicher gemacht, dass ihr es tatsächlich schaffen könnt?
Jeff: Die meisten Kinder betreten diese Welt mit einem unbelasteten Selbstvertrauen, und dieses kann einem später vielleicht genommen werden. Aber unsere Mutter hat den Glauben an uns selbst stets gefördert. Als wir uns auf die Reise vorbereiteten, hat sie uns natürlich dabei geholfen. Sie gab uns jede Menge Werkzeug an die Hand, um die Reise überhaupt in Angriff nehmen zu können.
Woher hatte eure Mutter dieses Gefühl der Zuversicht, dass ihr es auch tatsächlich schaffen würdet?
Jeff: Sie wuchs in einer Familie auf, die sich rund um die Uhr um das Anwesen kümmerte. Unsere Großeltern mussten sich mit dem begnügen, was sie hatten, dennoch lebten sie ein unbeschwertes Leben. Sie mussten aus der Not heraus die Dinge einfach immer zum Laufen bringen. Und das hat sich unsere Mutter abgeschaut. Für sie gab es keine Probleme, sondern nur Lösungen.
Ihr beide seid antiautoritär aufgewachsen, anders als die meisten Kinder. Habt ihr das Gefühl, dass Kinder heutzutage nicht mehr die Möglichkeiten haben, wie ihr damals?
Jeff: Ich denke, dass die Kinder heute durchaus Abenteuer erleben, nur anders als wir. Der wesentliche Unterschied liegt wahrscheinlich darin, dass inzwischen jedes Kind ein Handy besitzt. Als ich ein Kind war, kam ich von der Schule nach Hause und war weg. Und alle haben darauf vertraut, dass ich spätestens zum Abendessen wieder zu Hause sein würde. Und so war es dann auch.
Tony: Nun, ich finde, dass heutzutage vieles von den Eltern durchgeplant wird. Wir spielten jeden Tag draußen in der Natur und hatten nicht immer eine Idee, was wir machen, aber stets irgendeine interessante Beschäftigung. Es ist vielleicht das Gleiche, aber anders.
Als ihr unterwegs wart, bekam eure Mutter zum Teil bösartige Briefe und Anrufe. In einer Lokalzeitung hieß es, dass sie furchtbar unverantwortlich sei. Habt ihr jemals im Nachhinein darüber gesprochen, wie sie sich fühlte, als sie diese Anfeindungen bekam?
Jeff: Ich wusste nicht einmal, dass es irgendwelche Spannungen gab. Erst Jahre später erzählte mir meine Schwester davon, die damals im Haus war und viele Anrufe entgegennahm. Das hat enormen Stress verursacht, den ich damals einfach nicht wahrgenommen habe.
Tony: Sie haben uns immer vor dieser Art von Kritik geschützt, auch als die Reise zu Ende war. Alle waren begeistert, als wir siegreichen Helden nach Hause kamen. Ich hörte nichts als positive Bestätigung.
Jeff: Noch vor der Reise wurde ich von meinen Klassenkameraden gehänselt, als sie herausfanden, was wir da planten. Und nach unserer Rückkehr wollten sie alle plötzlich unsere Freunde sein.
Das wirft die Frage auf, wie die Reise euch verändert hat und sich auf den Rest eures Lebens auswirkte?
Jeff: Also ich glaube, der wahrscheinlich größte Effekt für mich war, dass ich danach mit jedem über fast alles reden kann. Das ist vielleicht etwas, was mir in dieser kurzen Zeit eingeimpft wurde, weil wir so viel Kontakt mit Leuten hatten, die mit uns Zeit verbringen wollten.
Tony: Das ging mir genauso. Aber ich denke auch, dass es unser Selbstvertrauen gestärkt hat, denn ich war danach zuversichtlich, dass ich etwas, was ich tun wollte, auch letztendlich umsetzen konnte, selbst wenn es schwierig war. Wenn man sich gut vorbereitet, kann man sich auch in heikle Situationen begeben, in denen der Ausgang unbekannt ist.
Wie war denn eure Beziehung zu eurem Pony? Hattet ihr nach dieser abenteuerlichen Reise eine andere Beziehung zu King, die ihr vorher nicht hattet?
Tony: Auf jeden Fall! Wir gingen zu dritt auf diese Reise, nicht nur zu zweit. Während dieser ganzen Wochen wurde King zu unserem Bruder und wuchs uns ans Herz. Wir hatten Futter für King dabei, aber an den meisten Orten, wo wir übernachteten, gab es entweder Getreide oder genügend Weideland für King. Als wir noch klein waren, übertrug uns Mutter die Verantwortung für King. Wir mussten dafür sorgen, dass er immer ausreichend Wasser hatte. Ich meine, wenn ich meine eigenen Kinder sehe, die sich nur um den Hund zu Hause kümmern sollen, dann denke ich, wow. Hast du die Bilder von dem Ponywagen gesehen? Da hängt ein Eimer vom Sitz herunter, da war immer Wasser drin. Das war wirklich wichtig, denn er hat sehr viel gearbeitet. Die Pflege von King war also ein wichtiger Teil davon. Wir wussten genau, was er brauchte.
Jeff: Wir haben uns wahrscheinlich noch mehr gekümmert als davor, weil wir nun nur zu zweit waren und selbst dafür verantwortlich waren. Wir haben immer dafür gesorgt, dass er gebürstet war, dass seine Hufen sauber waren, bevor wir morgens losgefahren sind. King war unser Kumpel und wir wollten sichergehen, dass er immer in guter Verfassung war.
Gab es jemals einen Moment auf der Reise, in dem ihr das Gefühl hattet, aufgeben zu wollen?
Jeff: Überhaupt nicht, wir waren so auf das konzentriert, was wir wollten – es bis nach Montreal zu schaffen. Tony und ich waren Partner in dieser Sache und wenn es Entscheidungen zu treffen gab, haben wir sie immer gemeinsam getroffen. Wir hatten keine Angst vor irgendetwas und es ist auch nichts passiert, was uns Angst gemacht hätte. Nein, wir wollten nie aufgeben.
Ihr habt beide auch Kinder. Würdet ihr ihnen heutzutage solch eine Reise überhaupt erlauben?
Tony: Ich würde sie gehen lassen, aber meine Frau bestimmt nicht! (lacht)
Jeff: Ich würde meine Kinder auch gehen lassen. Allerdings würde ich es davon abhängig machen, wie gut sie sich vorbereiten und letztendlich, inwieweit ich meine Frau davon überzeugen kann.
Was wäre die Botschaft aus eurer Erfahrung, die ihr Eltern und Kindern mit auf den Weg geben möchtet?
Jeff: Seid bereit. Lasst euch darauf ein. Genießt es. Seid enthusiastisch. Das sind die Dinge, an die ich mich von dieser Reise erinnere. Und die Menschen sind im Allgemeinen gut und wollen helfen.
Tony: Jeff hat es perfekt gesagt, die Menschen sind gut! Und bei jedem Projekt, das es wert ist, es umzusetzen, werden Sie feststellen, dass einen Leute umgeben, die einen mit Enthusiasmus unterstützen. Und wenn es Pessimisten sind, dann sucht euch Menschen, die euch weiterbringen.
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