In Schweden fallen hunderte traumatisierte Flüchtlingskinder in einen komaähnlichen Zustand, erkranken an dem sogenannten Resignationssyndrom. Der schwedische Dokumentarfilm „Vom Leben überholt“ der zweifach Oscar-nominierten Filmschaffenden John Haptas und Kristine Samuelson erzählt von diesem Phänomen, das in den frühen 2000er Jahren erstmals beobachtet wurde. Der Kinderarzt und Professor Dr. Henry Ascher von der Universität Göteborg sagt, bis heute seien rund tausend Fälle der Krankheit in Schweden bekannt. Er forscht zu diesem rätselhaften Syndrom und konzentriert sich dabei auch auf soziale Unterschiede der Betroffenen.
Von Tamara Gajić
Herr Professor Ascher, im Jahr 2014 nahm das schwedische National Board of Health and Welfare das Resignationssyndrom als eine eigenständige Diagnose auf. Wie kann man diese Krankheit beschreiben?
Es gibt aktuell keinen Labortest oder eine objektive medizinische Untersuchung, um eine Diagnose exakt verifizieren zu können. Erfahrungsgemäß wird eine Reihe von klinischen Untersuchungen durchgeführt, die das Syndrom letztendlich definieren können. Allerdings kann die Krankheit im Laufe der Zeit variieren: Bei einigen Patienten, vor allem im frühen Stadium, zeigt sich eine aktive Form der Verweigerung, beispielsweise der Nahrungsaufnahme. Der Krankheitsverlauf schwankt letztendlich zwischen diesen aktiven Protesteten und einer eher passiven Haltung, diese allerdings entwickelt sich mehr und mehr zu einem apathischen Zustand. Die Kinder koppeln sich im Prinzip von der Außenwelt ab und verschließen sich.
Was ist letztendlich der Krankheitsauslöser und wie äußert sich der Verlauf?
In der Regel handelt es sich um Kinder, die ein extrem schweres Trauma erlitten haben, zum Beispiel, dass sie Zeugen einer Vergewaltigung oder sogar der Gruppenvergewaltigung ihrer Mutter geworden sind, was leider nicht ungewöhnlich ist. Manchmal sind sie auch selbst missbraucht worden. Dann sind viele dieser Kinder in Schweden angekommen, sie haben sich sicher gefühlt, dass diese schrecklichen Erlebnisse nie wieder passieren werden. Viele von ihnen waren sehr, sehr gut in der Schule, haben schnell Schwedisch gelernt, waren innerhalb weniger Jahre Spitzenschüler in ihren Klassen. Und dann kam die Entscheidung, dass sie in die Hölle zurückgeschickt werden sollten. Und dann tauchte diese Art von Symptom auf. Wir haben Beschreibungen von Kindern in anderen sehr schwierigen Umständen, die sich mehr oder weniger von der sie umgebenden Welt abgekapselt haben, um mit einer Situation fertig zu werden, zum Beispiel Kinder, die in Waisenhäusern sehr schlecht behandelt wurden. Sie zeigten Symptome, als ob sie eine schwere kognitive Beeinträchtigung hätten. Und wenn sie dann in eine liebevolle Familie kommen, entwickeln sie sich zu ganz normalen Kindern.
Sind nur traumatisierte Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund davon betroffen oder wurden auch derartige Fälle bei Erwachsenen nachgewiesen?
Es können verschiedene Formen von Traumata diesen Zustand auslösen, die auch Erwachsene Menschen erleben. Flüchtlingshelfer haben von Frauen aus Bangladesch berichtet, die schwerem Missbrauch ausgesetzt waren und somit in diesen Zustand der Resignation gerieten, nachdem ihrem Asylantrag nicht stattgegeben wurde. Das bedeutete für sie persönlich nichts anderes, als dass sie an den Ort zurückgeschickt werden sollten, wo sie missbraucht worden waren. Aber was wirklich überrascht hat und wofür wir immer noch keine gute oder mehr als eine hypothetische Erklärung haben, ist, warum es in Schweden bei einer so großen Anzahl von Kindern in einem ganz bestimmten Zeitraum auftrat.
Wenn man bedenkt, dass es in der Geschichte unzählige Kriege sowie Kriegsflüchtlinge gab, scheint es verwunderlich, dass dieses Syndrom erst so spät entdeckt wurde. Woran liegt das?
Wenn wir zurückgehen, zum Beispiel in der Literatur oder in Spielfilmen, können wir verschiedene Geschichten finden, die ähnliche Fälle sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen thematisieren, die aus Kriegsgebieten stammten. Und in chaotischen Kriegssituationen wird das Schicksal der Kinder oft übersehen, weil Erwachsene die Geschichte schreiben. Ich habe gehört, wie Menschen aus verschiedenen Kriegsgebieten von Kindern berichteten, die bewusstlos waren, ohne überhaupt verletzt worden zu sein, und die sogar aus ungeklärten Gründen starben, was mit dem Resignationssyndrom zusammenhängen könnte. Interessanterweise hat die schwedische Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf schon 1899 einen Roman geschrieben, in welchem sie aus der Sicht eines Kindes solche Symptome beschreibt. Es geht um ein kleines Mädchen, das ihre Eltern und Verwandten verloren hat und aus diesem Grund in einer Priesterfamilie untergebracht wird. Die Protagonistin hat eine unglaubliche Fantasie, aber man erlaubt ihr nicht, ihre Fantasie weiterzuentwickeln, weshalb sie immer depressiver wird. Und irgendwann will sie nicht mehr. Es ist ihr egal, ob sie lebt oder stirbt.
Nun beschränkt sich ihre Forschungsarbeit größtenteils auf Schweden. Wird das Resignationssyndrom auch in anderen Ländern als solches diagnostiziert?
Wir haben keine genauen Zahlen, aber es wurde über weitere Fälle in Europa berichtet, wie zum Beispiel aus den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln seit 2015. Es gibt auch eine wissenschaftliche Studie von dem pazifischen Inselstaat Nauru, wo Australien Flüchtlingslager unter sehr schweren Lebensbedingungen betrieb. Aber die hohen Zahlen, die wir eine Zeit lang in Schweden hatten, sind nicht mit anderen Orten vergleichbar.
Die betroffenen Kinder haben jegliche Hoffnung auf eine gute Zukunft verloren. Inwiefern sind die Eltern sowie Ärzte zuversichtlich, diese Situation überhaupt ändern zu können?
Als der Gesundheitssektor von den Zahlen überrascht wurde, wusste keiner genau, wie wir mit diesen Fällen umgehen sollten. Aber nach und nach erkannten die Leute, dass eine multidisziplinäre Behandlung erforderlich war und wir uns dringend um die Eltern kümmern mussten, denn sie waren oft panisch und hatten große Angst, dass ihr Kind sterben würde. Wir mussten also den Eltern wieder Hoffnung geben, sie dabei unterstützen, ihre Traumata und Sorgen nicht mit den Kindern zu teilen, sondern andere Wege zu finden, um ihre eigenen Ängste zu kanalisieren oder zu bewältigen. Dann war es natürlich notwendig, sich sowohl medizinisch als auch psychologisch um das Kind zu kümmern, dass es genug Nahrung aufnahm, um nicht abzunehmen und zu beobachten, dass der Körper im Gleichgewicht blieb. Die Kinder brauchten Physiotherapie, weil sie sich nicht bewegten, damit sie keine steifen Gelenke bekamen. Und wir haben auch gelernt, dass es wichtig ist, die verschiedenen Sinne der Kinder zu stimulieren, damit sie sich im Rollstuhl aufsetzen, an die frische Luft gehen oder Musik hören. Also ein wirklich multidisziplinärer Ansatz und ein regelmäßiges Programm, um zu vermeiden, dass das Kind Tag und Nacht nur im Bett liegt. Wenn wir die Hoffnung wiedererwecken können, dass die Kinder durch ihre Eltern erkennen, dass die Bedrohung, vor der sie sich fürchten, beseitigt ist, dann können sie sich tatsächlich erholen und zu einem wahrscheinlich normalen Leben zurückfinden. Aber das braucht Zeit, sehr viel Zeit.
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