Berlin, Juni 2022:
„Ihr sollt also nicht um den nächsten Tag sorgen, der morgige Tag wird sich nämlich um sich selber sorgen, jedem Tag genügt die eigene Mühe.“ So sprach vorzeiten ein Prediger, der viel Aufsehen erregte – wie man bei Matthäus 6, 24 ff nachlesen kann. Bei der Geburt des Kindes, das als Erwachsener die Devise „ein Tag, eine Sorge“ ausgab, reisten, wie man weiß, die noch heute populären weisen Könige aus dem Morgenland an, um ihm Geschenke zu überbringen – ohne Rücksicht darauf, daß Neugeborene für Gold, Myrrhe und Weihrauch zunächst wenig Verwendung haben. Die Zeiten haben sich geändert, und mit ihnen die Verteilung der Sorgen über die Tage. Wer heute zur Welt kommt, tut gut daran, so bald wie möglich an den morgigen Tag und die Tage danach zu denken. Wer Glück hat, dem begegnen sogar einige Weise aus dem Übermorgenland und bringen Geschenke mit, die sich eines fernen Tages als die wertvollsten erweisen.
Gedanken zu Über_Morgen von Peter Sloterdijk
© Rainer Lück